„Haben in allen Gewichtsklassen eine Außenseiterrolle“

Niklas STECHELE / Foto Kadir Caliskan (UWW)
Der Countdown läuft. Bei den bevorstehenden Weltmeisterschaften vom 15. – 24. September in Belgrad steht für den Deutschen Ringer-Bund (DRB) viel auf dem Spiel – es geht um die ersten Quotenplätze der olympischen Sommerspiele 2024 in Paris.
Wir haben die drei verantwortlichen Bundestrainer Michael Carl (Gr.-römisch), Patrick Loes (Frauen) und Jürgen Scheibe (Freistil) nach dem Leistungsstand und den Chancen der Athletinnen und Athleten gefragt und welche Herausforderungen in Vorbereitung auf die WM gemeistert werden musste.
Michael, Patrick und Jürgen, die WM-Mannschaften für Belgrad 2023 sind nominiert. Welche Kriterien waren für die Nominierung der einzelnen Sportlerinnen und Sportler ausschlaggebend und wo gab es differenzierte Nominierungsentscheidungen?
Michael Carl: „Die WM-Kriterien im Gr.-römisch waren die internationalen Ergebnisse der vergangenen Turniere im Jahresverlauf sowie die Disziplin, Professionalität und Einstellung der Athleten ausschlaggebend“.
Patrick Loes: „Für die Frauen waren die DM in Heidelberg (nationaler Vergleich), das Ranking Turnier in Budapest und die Poland Open als internationaler Vergleich die Nominierungsgrundlage für die WM. Wer zwei Turniere für sich entscheiden konnte, hat sich in den olympischen Klassen qualifiziert bzw. wurde nominiert.“.
Jürgen Scheibe: „Die Teilnahme bei den Deutschen Meisterschaften und der internationale Leistungsnachweis, die Leistungsperspektive und natürlich auch die Priorisierung der olympischen Gewichtsklassen waren im Freistil ausschlaggebend“.
In welchen Gewichtsklassen bestehen Eurer Meinung nach die größten Chancen für eine direkte Qualifikation bei der WM in Belgrad?
Carl: „Schwer zu sagen. Ehrlich gesagt haben wir in allen sechs Gewichtsklassen eine Außenseiterrolle. Favoriten auf eine direkte Olympiaqualifikation sind die Athleten bzw. Nationen, die letztes Jahr bei der WM sowie bei den Kontinentalmeisterschaften in diesem Jahr eine Medaille erzielt haben“.
Scheibe: „Man muss das Ganze natürlich realistisch einschätzen. In den letzten Jahren haben wir eine WM-Medaille durch Horst Lehr gewinnen können. Horst fällt für diese WM verletzungsbedingt aus. Platz eins bis fünf hat in den letzten Jahren darüber hinaus keiner unserer Athleten erreicht. Wer also die direkt Olympia-Quali erreichen will, muss an diesem Tag über sich hinauswachsen. Es muss alles passen, unter anderem eine günstige Auslosung. Es ist nichts unmöglich, wir sind gut vorbereitet.
Wie groß ist die Chance einer direkten Qualifikation und wie realistisch sind die Chancen, es über die Qualifikationsturniere 2024 zu schaffen?
Carl: „Die WM ist dahingehend entscheidend, da die ersten Fünftplatzierten eine direkte Olympiaqualifikation erkämpfen und somit auch langfristig den methodischen Aufbau für die Olympischen Spiele planen können. Die Chance, es über die Qualifikationsturniere zu schaffen, wird davon abhängig sein, wie die Vorbereitung bis dahinläuft und wir von Verletzungen verschont bleiben“.
Loes: „Die Weltmeisterschaften sind die erste Qualifikationsmöglichkeit (Direktqualifikation). Das Qualifikationssystem hat sich in diesem Zyklus etwas geändert. Platz 1-5 qualifiziert sich direkt für Paris, allerdings kämpfen die beiden Fünftplatzierten nochmal separat das Ticket aus. Dafür stehen im letzten Qualifikationsturnier im Mai 2024 stehen drei Qualifikationsplätze zur Verfügung. Aufgrund der aktuellen Setzlisten, das teilweise unbekannte Teilnehmerfeld und die Leistungsstärke des russischen und weißrussischen Teams, ist es aktuell schwierig, die Chancen auf eine Direktqualifikation einzuschätzen.
Scheibe: „Im April und Mai 2024 gibt es noch zwei Qualifikationsturniere. Die Chancen hier sind immer da. Hier müssen wir sehen, dass wir topfit sind und die bestehenden Chancen versuchen, zu nutzen“.
Wie lief die Vorbereitung auf die WM? Gab es im Verlauf der Vorbereitung einige Hürden oder Herausforderungen? Was unterschied die Vorbereitung zu den vergangenen Höhepunkten?
Carl: „Im Gegensatz zu letzten Jahr haben wir einiges in der Vorbereitung angepasst und verbessert. Wir haben mehr Maßnahmen mit neuen Reizen eingebaut, haben das Betreuerteam bei Maßnahmen aufgestockt, um so eine noch bessere individuellere Betreuung zu gewährleisten und haben den Fokus noch mehr auf die Verbesserung der Qualität im Trainingsprozess gelegt. Wie jedes Jahr gab es auch einige Hürden im Vorbereitungsprozess. Verletzungen, zwischenzeitliche Formtiefs usw. waren auch dieses Jahr wieder dabei“.
Loes: „Insgesamt bin ich mit der Vorbereitung von meinem gesamten Team zufrieden. Es gab wie immer kleinere Verletzungen, kleiner temporäre Ausfälle, aber nichts Dramatisches. Ein Unterschied zu den Vorbereitungen der vergangenen Olympiazyklen war zum einen der Wegfall unserer jahrelangen Lehrgangsmaßnahmen mit Ukraine und Russland (auf Grund der aktuellen Kriegssituation) und zum anderen die doch knappe Budgetierung im vorolympischen Jahr. Im Vergleich zu den letzten Zyklen (2016 + 2020) gab es gerade im vorolympischen Jahr immer eine Aufstockung, um den höheren Lehrgangs und Wettkampfbedarf entsprechend zu decken. In diesem Zyklus blieb alles mehr oder weniger gleich, die Preise wurden allerdings überall angezogen (Flug, Hotelkosten, etc.). Das haben wir deutlich gespürt“.
Scheibe: „Die Vorbereitung lief gut. Wir hatten ein Trainingslager in Freiburg mit den Franzosen. Danach haben wir zwei Wochen in Georgien trainiert. Die Sportler haben sehr gut trainiert. Bis auf den kleinen Wehmutstropfen mit Horst Lehr bin ich mit der Vorbereitung sehr zufrieden“.
Inwieweit spielen die Nominierungen und die Entscheidungen der nicht-olympischen Gewichtsklassen eine Rolle innerhalb des Teams für Euch als Bundestrainer?
Carl: „Wir haben im Bereich Gr.-römisch für dieses und für nächstes Jahr festgelegt, dass die Athleten, die in den olympischen Gewichtsklassen ringen, absolute Priorität haben. Da wir in einigen olympischen Gewichtsklassen eine gute Konkurrenzsituation haben, besteht dadurch die Möglichkeit, einen davon in der nichtolympischen Gewichtsklasse starten zu lassen, um auch im Hinblick auf nächstes Jahr einem weiteren Athleten über einen Wettkampfhöhepunkt weiterzuentwickeln“.
Loes: „Die nicht-olympischen Klassen spielen für mich eine sehr wichtige Rolle. Und dass über den gesamten Zyklus hinweg. Beispielsweise haben wir Athletinnen, die eine klare Orientierung in einer olympische Klasse haben, jedoch über den Zyklus hinweg oft in nicht-olympischen Klassen eingesetzt werden, um die dauerhafte Gewichtsreduzierung zu vermeiden. Ein anderes Beispiel: Wir haben Gewichtsklassen mit starker nationaler Konkurrenz sowohl in der olympische Klasse und die nicht-olympische Klasse besetzt (53+55 kg & 57+59 kg). Dort verfügen wir über perspektivisch starke Athletinnen, die sich über die Europameisterschaft und Weltmeisterschaft entwickeln sollen.
Scheibe: „Mit Kevin Henkel in der 70kg-Klasse haben wir einen fünften Europameister. Er hat auch bei den Turnieren gute Leistungen gezeigt. Aus diesem Grund bekommt er auch bei der WM die Chance, zu ringen“.